Proben für Heiligabend
Eine Geschichte von Flora Montán
Gisela probt in der Kirche mit Freiwilligen für das Krippenspiel, das an Heiligabend vom ZDF aufgenommen werden soll. Die Besetzung der Rollen stellt Gisela vor ganz neue Herausforderungen.
Gisela ging in der Kirche vor dem Altar auf und ab und sah nervös auf ihre Armbanduhr. Gleich war es drei Uhr nachmittags und die Freiwilligen würden hoffentlich zu ihrer ersten Krippenspiel-Probe erscheinen. Die Kirche war wohlig warm geheizt, weil heute Abend das Adventsingen stattfand.
Ob es eine gute Idee war, auf Maries Vorschlag einzugehen? Eine wirkliche Wahl hatte sie nicht als Verantwortliche für das Krippenspiel, denn schon in drei Wochen war Heiligabend und das ZDF würde dann genau hier mit den Kameras stehen und den Weihnachtsgottesdienst mitsamt dem Krippenspiel aufnehmen. Die alte und wertvolle Krippe mit den großen Figuren in ihrer Kirche sollte während des Gottesdienstes immer wieder eingeblendet werden.
Marie hatte angekündigt, dass ihre Freundinnen so Frauen seien wie sie und alle sehr nett. Und dass sie sich angesichts der Notlage in der Gemeinde bestimmt dazu bereit erklärten, die Rollen im Krippenspiel zu übernehmen.
„Hallöchen“, rief eine sich überschlagende Stimme in den Kirchenraum. Eine große Frau in einem figurbetonten pinken Kleid kam auf sie zu. „Ich bin Jasmin und helfe natürlich gerne auch beim Krippenspiel“, sagte die große Frau mit einer tiefen Stimme.
Gisela schluckte. Diese Jasmin mit den langen blonden Haaren, die vor ihr stand, war der Bruder des Pastors und heute wohl wieder einmal eher seine Schwester.
Jasmin streckte ihr die Hand entgegen. „Angenehm.“
Sie nahm Jasmins kräftig schüttelnde Hand und hoffte, dass als Nächste Marie erscheinen würde. Marie kannte alle ihre Freundinnen, während sie nicht so recht wusste, wie sie die Neuen für das Krippenspiel empfangen sollte.
Ein paar Frauen, die meisten von ihnen mindestens eins achtzig groß, kamen lachend zur Kirchentür herein. Sie unterhielten sich in allen möglichen Tonlagen, während sie nach vorne kamen.
„Mit ihrer Größe werden sie beim Krippenspiel auf jeden Fall gut zu sehen sein“, dachte Gisela.
„Hach, ich bin so aufgeregt“, „ich wollte schon immer ins Fernsehen“ und „wir werden wunderschöne Engel sein“, schnappte Gisela zwischen dem Wortschwall der Frauen auf.
„Da sind wir“, hörte sie Maries Stimme aus der Mitte rufen und war erleichtert. Marie trug ein hellbraunes Wollkleid und war wie immer dezent geschminkt.
„Herzlich willkommen“, sagte Gisela und sah, dass Marie die kleinen goldenen Ohrringe trug, die sie ihr vor zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt hatte. Gisela errötete bei dem Gedanken, dass diese Frau bis vor einer Woche wegen ihr der Gemeinde ferngeblieben war.
Da alle Frauen Gisela gespannt ansahen, stellte sie sich in ihre Mitte. „Gut, dann werden wir gleich loslegen. Sie können sich gerne hier in die vordere Bank setzen“, bot sie den um sie Herumstehenden an.
Fünf Frauen setzten sich auf die Bank in der ersten Reihe und Jasmin blieb neben der Bank stehen.
„Liebe äh“, setzte Gisela an.
„Frauen“, half ihr Marie.
„Ja, liebe Frauen, ich begrüße Sie alle in unserer Gemeinde. Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie in der misslichen Lage, in der wir uns befinden, so zahlreich erschienen sind.“
Die Frauen, vermutlich alle in ihren Vierzigern und Fünfzigern, nickten.
Sollte sie noch etwas dazu sagen, warum die Kinder nicht mehr zu den Proben für das Krippenspiel kamen? Dass die Eltern etwas dagegen hatten, dass Marie ihr bei den Krippenspielproben half, weil sie befürchteten, Marie könnte ihre Kinder schlecht beeinflussen?
Eine Frau mit langen schwarzen Haaren hob die Hand. „Stimmt es wirklich, dass das ZDF da sein wird an Heiligabend?“
Gisela nickte. „Ja, unser Krippenspiel wird bundesweit in den Wohnzimmern zu sehen sein.“
Die Frauen sahen sich lächelnd an oder lachten.
„Oh, mein Gott!“ Jasmin riss die Augen auf. Passend zu ihrem pinken Kleid trug sie einen pinken Lidschatten.
„Ich möchte der Gemeinde in dieser schwierigen Situation helfen“, sagte eine Frau in einer geblümten Bluse auf der rechten Bank, „aber ich möchte auf keinen Fall gefilmt werden.“
„Nein?“, fragte Jasmin ungläubig und hielt sich erstaunt die Hände an ihre Wangen.
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich will anonym bleiben.“
„Das ist kein Problem, Süße. Ich kann dich so schminken, dass dich garantiert niemand mehr erkennt“, rief eine stark geschminkte Frau zu derjenigen, die im Fernsehen nicht erkannt werden wollte.
„Oh cool“, riefen zwei Frauen und sahen anerkennend zu der Frau, die wohl gut schminken konnte.
„Dann ist das jetzt ja geklärt“, stellte Marie lächelnd fest und zeigte dabei ihre hübschen Grübchen auf den Wangen.
Giselas Herz schlug eindeutig zu schnell. Der Pastor fand die Idee gut, dass Marie und ihre Freundinnen die Rollen im Krippenspiel übernahmen, aber das ZDF wusste noch nichts von der Rollenbesetzung. Wie die Gemeinde auf dieses Krippenspiel reagieren würde, war dem Pastor egal, aber ihr nicht. Seit vielen Jahren übte sie das Krippenspiel ein, aber so eine Besetzung hatte es noch nie gegeben. Der Pastor hatte sich in letzter Zeit wirklich stark verändert, weshalb schon einige Gemeindemitglieder ausgetreten waren.
Gisela seufzte und sah vor sich auf den Boden. Dort sah sie auf ausnahmslos schicke Frauenschuhe in Rot, Orange, Lila und Schwarz. Sie sah an sich herunter auf ihre breiten schwarzen Arbeitsschuhe. Wie immer um diese Jahreszeit trug sie ihre dunklen Jeans, eine Bluse und darüber einen groben Wollpullover. Ob die Frauen sie burschikos fanden?
„Gut“, versuchte Gisela sich wieder zu sammeln. „Wer von Ihnen hat denn schon Erfahrung mit dem Theaterspiel?“
Jasmin, die neben Bank stand, richtete sich auf. „Ich habe als Dragqueen schon sehr viel Erfahrung auf der Bühne und kann gerne eine Hauptrolle übernehmen.“ Auf ihren Augenwimpern trug sie Glitzer und dadurch wirkte allein schon ihr Augenaufschlag glamourös.
Marie lächelte, aber die anderen Frauen sahen nicht begeistert aus.
„Das war ja klar. Wahrscheinlich hast du an die Rolle der Maria gedacht?“, keifte die stark geschminkte Frau zu Jasmin herüber.
„Ja, Julia. Tatsächlich habe ich an die Maria gedacht.“ Jasmin sah zu der anderen Frau mit einem Lächeln, das Gisela erschaudern ließ.
Alle Frauen sahen missmutig zu den sich streitenden Frauen und zwei von ihnen schüttelten mit einem „Ts Ts Ts“ den Kopf.
Wenn das so weiterging, würden sie heute nicht weit kommen. „Wer möchte denn den Josef spielen?“, versuchte sie abzulenken.
Marie stand auf. „Keine. Alle von uns haben die meiste Zeit ihres Lebens die Rolle eines Mannes gespielt. Damit ist nun Schluss!“
Marie setzte sich wieder hin und alle Frauen klatschten begeistert.
Gisela war heiß und sie begann zu schwitzen. Was sollte so aus dem Krippenspiel werden? „Aber wer soll dann den Josef spielen, die Hirten und den Herbergsvater?“ Ratlos sah sie die Frauen an.
Julia schnellte in die Höhe. „Die Männer-Rollen müssen andere Personen übernehmen, aber doch nicht wir.“
Alle Frauen nickten.
„Einverstanden“, hörte Gisela sich sagen. „Ich verspreche, dass bei der nächsten Probe die Personen für die Männer-Rollen da sein werden.“ Meine Güte, wer aus ihrer Gemeinde sollte so kurzfristig bereit sein, mit diesen doch etwas speziellen Frauen zusammen das Krippenspiel einzuüben und aufzuführen? Und das inklusive einer Fernsehaufnahme. Sie drehte sich um und sah zu dem Kreuz über dem Altar. „Lieber Gott, du kannst das möglich machen“, betete sie in Gedanken.
Ihr lief der Schweiß am Rücken herunter. „Weitermachen, einfach weitermachen“, befahl sie sich selbst.
„Wir beginnen jetzt mit dem ersten Satz aus unserem Krippenspiel, den jede von Ihnen hier vorne betont vortragen wird. Ein Engel verkündet Maria: ‚Fürchte dich nicht, Maria, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.‘“
Alle Frauen hörten ihr konzentriert zu und Marie lächelte. Marie schien wirklich überhaupt nicht mehr sauer auf sie zu sein. Dabei hatte sie sich vor zwei Wochen ihr gegenüber so schäbig benommen. Als die Eltern über den Pastor ausrichten ließen, dass ihre Kinder nicht mehr zu den Krippenspiel-Proben kommen würden, weil diese Marie einen schlechten Einfluss auf ihre Kinder hätte, war sie erst einmal auf Marie wütend geworden. Sie hatte Marie verboten, das Gemeindehaus und die Kirche länger zu betreten und ihr die Schuld an dem ruinierten Krippenspiel gegeben. Der Gedanke an ihr Verhalten damals ließ sie wieder ins Schwitzen kommen.
Julia kam als erste nach vorne und sprach den Satz fließend: „‚Fürchte dich nicht, Maria, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.‘“
Dann war die Frau mit den langen schwarzen Haaren an der Reihe. Ihre Stimme rutschte öfter in den tiefen Bereich und sie sah verlegen zu Gisela. Ihr breites Kinn passte genau zu ihrer breiten Stirn und Gisela fand, dass ihre langen Haare das Gesicht perfekt umrahmten.
„Ich muss noch etwas üben“, sagte die Frau mit dem perfekten Gesicht.
Die dritte Sprecherin trug ein hellgelbes Kleid. Sie blieb neben Gisela stehen und sah verunsichert zu den anderen Frauen. Ihre Gesichtshaut war großporig und Gisela ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön sie es fand, dass wenigstens an einer der Frauen hier äußerlich nicht alles perfekt schien.
Die Frau setzte an: „Fürchte dich nicht“, krächzte sie. „Ma-ri-ri-a“, stotterte sie weiter. „Denn Gott hat Wohlgefallen“, sagte sie in einer heiseren tiefen Stimme. Mit einem unglücklichen Gesicht sah sie zu Gisela. „Oh nein, es geht noch nicht. Ich warte schon so lange auf den Termin bei der Logopädin.“
Gisela nickte der Frau aufmunternd zu. Sie wusste von Marie, wie hart und ausdauernd diese Frauen ihre Stimme trainieren mussten, um sie weiblich klingen zu lassen. Gleichzeitig fragte sie sich, wie die Kirchbesucher auf diese stark schwankenden Stimmen an Heiligabend reagieren würden. Verließen einige von ihnen dann einfach vor laufenden Kameras die Kirche?
„Könnten wir bitte eine Toilettenpause machen?“, fragte die Frau in der geblümten Bluse leise, aber laut genug, damit Gisela es hörte.
„Wir machen eine kurze Pause“, rief Gisela erleichtert. „Die Toiletten befinden sich neben dem Kircheingang auf beiden Seiten. Sie können auch gerne die Männertoiletten benutzen. Es sind ja keine …“ Sie verstummte, als sie sah, dass die Hälfte der Frauen angewidert den Kopf schüttelte und die andere Hälfte sie entsetzt ansah.
Marie kam zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. „Gar nicht so einfach mit uns, was?“ Sie lächelte Gisela verschmitzt an. Dieses verschmitzte Lächeln hatte sie in den letzten Wochen vermisst.
„Oh, ich weiß nicht. Ich übe eben nicht jeden Tag ein Weihnachtskrippenspiel mit erwachsenen Frauen ein.“
„Ja, und nicht mit Frauen, die sich erst seit kurzem in ihrem Frausein üben.“
„Ich bin das nicht gewohnt.“ Gisela seufzte.
„Behandle uns einfach wie ganz normale Frauen.“
„Normale Frauen“, murmelte Gisela.
„Ja. Wir sind so verschieden wie andere Frauen auch.“ Marie lachte.
Ja, verschieden waren die Frauen in ihrer Gemeinde wirklich. Sie sah Marie in die Augen und erinnerte sich daran, wie sie sich das erste Mal begegnet waren. Sie wusste damals nicht, was für eine Frau ihr im Gemeindecafé aushelfen würde und Marie war unsicher, wie die Gemeindefrauen auf sie reagieren würden. Die Seniorinnen verstanden sich aber nach kurzer Zeit prächtig mit Marie und wussten es zu schätzen, dass sie sich beim Gemeindecafé gemeinsam mit Gisela um Kaffee und Kuchen kümmerte.
Das Handy in ihrer Tasche summte. Bestimmt eine Nachricht von ihrer Enkelin Rieke, die montags nach der Schule zu ihr zum Mittagessen kam. Rieke, natürlich! Gisela ging mit einem Grinsen zu ihrer Tasche. „Kannst du mit deinen Freundinnen die Männerrollen im Krippenspiel übernehmen?“, tippte sie in ihr Handy. Eine der Freundinnen von Rieke ließ sich eh nur noch mit einem Jungennamen ansprechen, aber ob die Vierzehnjährigen für Krippenspiel-Proben Zeit hatten? Gisela sah flehend zum Kreuz. „Herr, lass sie zu mir kommen“, betete sie leise vor sich hin.
Die Frauen waren alle wieder eingetroffen und Gisela wollte sich dem nächsten Problem nähern. „Wir müssen uns über die Kostüme unterhalten.“
„Sehr gerne“, sagte Jasmin sofort, während die anderen Frauen in den höchsten Stimmlagen „oh“ und „ah“ riefen und mit ihren Händen in der Luft gestikulierten.
„Unsere Kostüme für das Krippenspiel sind nicht in Ihrer Größe“, erklärte Gisela das Problem.
„Wir könnten uns selbst Kostüme nähen“, schlug Julia begeistert vor.
Nicht alle Frauen können nähen“, warf die Frau mit der Blümchenbluse ein.
„Es müssen Kostüme sein, in denen wir eine gute Figur machen“, sagte Jasmin mit einer sehr ernsten Miene.
„Eine echte gute Figur“, sagte Julia mit einem Blick auf Jasmins Brust.
„Was soll das denn heißen?“, schrie Jasmin in einer tiefen Stimme.
„Die Maria sollte aber nur eine spielen, die nicht mit der Stimme abrutscht“, sagte eine Frau auf der Bank in einer betont hohen Stimme.
Die Frau mit den langen schwarzen Haaren sah verächtlich zu Jasmin. „Die Maria war sowieso eine unauffällige und anständige Frau, so wie wir.“
Jasmin senkte ihren Blick.
„Meine Damen“, mischte Gisela sich ein. „Ihre Kleidung wird an Heiligabend körperbedeckend sein, vom Hals bis zu den Fußspitzen.“ Diese Ansage war nun hoffentlich eindeutig genug.
Jasmin hob ihren Kopf. „Und was ist mit Glitzer?“
„Und mit durchsichtigen Stoffen?“, wollte Julia wissen.
Wenn das so weiterging, dann drehte sie durch. „Bei der Generalprobe werde ich Ihre Kostüme genehmigen oder nicht.“ Sie sah schon vor sich, wie die Eltern und Kinder an Heiligabend auf den Kirchenbänken saßen und sich die Augen rieben. Hoffentlich traten nach der Aufführung nicht noch mehr Mitglieder aus der Gemeinde aus.
„Als Engel sollten wir blonde Locken haben“, meinte eine Frau mit kurzen Haaren. „Habt ihr solche Perücken zuhause?“
„Wieso denn Perücken? Ich bin ein natürlicher Engel“, flötete eine etwas dickere Frau mit blond gelockten Haaren und lächelte selig.
„Der Engel sollte doch aber auch eine engelhafte Figur haben“, warf eine sehr schlanke Frau ein.
„Die Putenengel sind aber nicht magersüchtig“, sagte die etwas dickere Frau beleidigt.
Gisela war von dem Hin- und Her Gekeife schwindlig. Diese Konkurrenz unter den Frauen war nicht gut für das Krippenspiel. Sie sah zu Marie, die ihr Gesicht hinter den Händen verborgen hatte. War sie traurig? Vor zwei Wochen war Marie auf jeden Fall traurig gewesen, als Gisela sie der Gemeinde verwiesen hatte. Der Pastor hatte Gisela ermahnt und Gespräche mit ihr geführt. In der Sonntagspredigt sprach er über die Nächstenliebe, die vor allem den Verstoßenen in der Gesellschaft gelten sollte. Schon bald hatte Gisela sich in Grund und Boden geschämt und sich bei Marie entschuldigt. Obwohl Marie ihre Entschuldigung sofort angenommen hatte, fühlte Gisela sich immer noch schuldig.
Gisela atmete tief ein. „Meine sehr verehrten Damen“, brüllte sie laut in den Kirchenraum.
Alle Frauen sahen sie erschrocken an und Marie machte ein verdutztes Gesicht.
„Meine Damen“, sagte Gisela nun etwas leiser. „Alle Achtung, was die Konkurrenz betrifft, das müssen Ihnen andere Frauen erst einmal nachmachen.“
Marie grinste und hatte wieder ihre hübschen Grübchen auf den Wangen.
Gisela wandte ihren Kopf von links nach rechts und sah alle Frauen an. „Ich kann Ihnen nur sagen: ‚Ich sehe Sie. Und Sie sind alle wunderschöne Frauen‘.“
Die Augen der Frauen leuchteten und ihr wurde in dem Augenblick bewusst, mit welcher Schönheit diese Frauen die Kirche erstrahlen ließen. Jede einzelne von ihnen besaß ihre eigene Schönheit und gleichzeitig waren sie alle so verletzlich, dass es Gisela schmerzte. „Wenn es wirklich zur Aufführung kommt“, dachte sie, „dann wird es ein Krippenspiel werden, das all das zeigen wird, diese Schönheit und Verletzlichkeit.“ Und sie fand, dass das doch ganz gut zu Weihnachten passte, denn Jesus war als Baby auch verletzlich und bestimmt schön gewesen.
Ihr Handy summte und schnell sagte sie zu den immer noch ergriffenen Frauen: „Sie stellen sich jetzt zu zweit gegenüber und jede sagt der anderen: ‚Fürchte dich nicht, Maria, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.‘“
Möglichst unauffällig sah sie auf ihr Handy. „Machen wir. Philipp will den Herbergsvater spielen. Ich mache den Josef und die anderen die Hirten.“ Dahinter hatte Rieke ein Herz gesetzt. Schnellt tippte Gisela drei Herzen ein.
Marie und die Frau in der geblümten Bluse standen sich gegenüber und lachten laut. Gisela ging zu ihnen und Marie japste: „Sie hat zu mir gesagt: ‚Fürchte dich nicht, Marie, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.‘“ Mit einem ernsten Gesicht sagte Marie zu der Frau ihr gegenüber: „‚Fürchte dich nicht Karla, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.‘“
Karla und Marie krümmten sich vor Lachen, während Jasmin und Julia neben ihnen interessiert zusahen.
Jasmin drehte sich zu Julia und breitete ihre Arme aus. So sah sie aus wie ein pinker Engel. „Fürchte dich nicht, Julia, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.“
Julia sah Jasmin herausfordernd an und rief: „Fürchte dich nicht Jasmin, denn Gott hat Wohlgefallen an dir gefunden.“
Die beiden Frauen neben ihnen drehten sich nun zueinander und auch Katharina und Josefine sagten sich gegenseitig, dass Gott seinen Wohlgefallen an ihnen gefunden hatte.
Gisela freute sich, dass zumindest die Stimmung bei der Probe jetzt besser war. Sie hörte die Stimme des Pastors. „Guten Tag die Damen“, rief er in die Runde.
Stimmt. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, die Frauen persönlich zu begrüßen.
„Herzlich willkommen in unserer Gemeinde“, sagte der Pastor, den die Krippenspielerinnen nun umringten. „Leider sind nicht alle in unserer Gemeinde so schönen Frauen wie Ihnen wohlgesonnen.“
Gisela und Marie sahen sich an seufzten gleichzeitig.
„Doch wie schon die Engel den Hirten verkündeten, werden wir uns nicht fürchten, denn wir haben mit dem Krippenspiel die frohe Botschaft zu verkünden.“
Jasmin sah den Pastor glücklich an und war bestimmt stolz auf ihren Bruder.
Die Frauen lauschten interessiert den Worten des Pastors, der sich nun ereiferte.
„Denn mit der Geburt Jesu ist uns die Möglichkeit gegeben, in unserer Gemeinde und in der Welt Frieden zu schaffen. Jesus hat sich allen Menschen in Liebe zugewandt.“
Einige der Frauen sahen sich verdutzt an.
„Amen“, sagte Gisela schnell, damit der Pastor nicht auf die Idee kam, während ihrer Krippenspiel-Probe eine Predigt zu halten.
Der Pastor sah lächelnd zu ihr und machte eine Pause. „Das ZDF ist sehr interessiert an dem Krippenspiel mit Ihrer Besetzung und ich habe schon viele Anrufe aus dem ganzen Stadtgebiet erhalten. Einige Gruppen wollen nur wegen Ihrem Krippenspiel zu uns in die Kirche kommen.“
Die Frauen nickten und fassten sich ergriffen an den Händen.
„Und ich bin mir sicher“, fuhr der Pastor fort, „dass so zauberhafte Frauen wie Sie, das Publikum in der Kirche und vor den Bildschirmen an Heiligabend verzaubern werden und Gott unser Krippenspiel segnen wird.“
Verzaubern. Das war das richtige Wort. Zaubern konnte Gott nun einmal verdammt gut. Marie stellte sich neben sie und nahm ihre Hand. Gisela sah zum Kreuz und dankte Gott. Für die zauberhaften Frauen, für Marie, ihren Pastor und Weihnachten.
Diese Geschichte ist auch Teil des Autoren-Adventskalenders. Hinter jedem Türchen findet ihr Beiträge von Autor:innen rund um die Themen Advent, Winter und Weihnachten.
Aus dem Roman „Denn dein ist die Liebe“
von Flora Montán
1. Kapitel
Hannes war in Eile, als er mit schnellen Schritten aus dem Haus trat. In der Zeitung stand, dass homosexuelle Paare sich von der evangelischen Kirche in Bremen schon seit sechs Jahren kirchlich trauen lassen konnten. In seiner Wut darüber hatte er die Zeit und seinen Umhang an der Garderobe vergessen.
Mit noch schnelleren Schritten ging er zurück in seine Wohnung im oberen Stock und betete: »Herr, sei deinem Diener gnädig und lass mich pünktlich sein.«
Er griff nach dem schwarzen Talar und warf ihn zwei Minuten später in seinem Auto auf den Beifahrersitz. Die Beerdigung auf dem Friedhof im Buntentorsteinweg fand um elf Uhr statt und ihm blieben noch fünf Minuten. Heute am Gründonnerstag musste er sich auf die Oster-Gottesdienste vorbereiten, aber die Leute starben einfach so, wie der Herr es wollte.
Während er den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, sah er in Gedanken schon, wie Gisela die Augenbrauen hochzog, wenn er zu spät bei der Beerdigung erschien.
*
Mehr über das Buch und die Autorin
Denn dein ist die Liebe
von Flora Montán
Kellner Verlag Bremen 2023
ISBN: 978-3-95651-386-2