Aus dem Roman „Denn dein ist die Liebe“
von Flora Montán
- Kapitel
Hannes war in Eile, als er mit schnellen Schritten aus dem Haus trat. In der Zeitung stand, dass homosexuelle Paare sich von der evangelischen Kirche in Bremen schon seit sechs Jahren kirchlich trauen lassen konnten. In seiner Wut darüber hatte er die Zeit und seinen Umhang an der Garderobe vergessen.
Mit noch schnelleren Schritten ging er zurück in seine Wohnung im oberen Stock und betete: »Herr, sei deinem Diener gnädig und lass mich pünktlich sein.«
Er griff nach dem schwarzen Talar und warf ihn zwei Minuten später in seinem Auto auf den Beifahrersitz. Die Beerdigung auf dem Friedhof im Buntentorsteinweg fand um elf Uhr statt und ihm blieben noch fünf Minuten. Heute am Gründonnerstag musste er sich auf die Oster-Gottesdienste vorbereiten, aber die Leute starben einfach so, wie der Herr es wollte.
Während er den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, sah er in Gedanken schon, wie Gisela die Augenbrauen hochzog, wenn er zu spät bei der Beerdigung erschien.
*
»Ja, in einer Viertelstunde bin ich bei dir. Ich bring dir noch etwas aus dem Bioladen mit.«
Anna sprach in Richtung Küchentisch, auf dem ihr Handy lag. Mit ihren Händen stellte sie leere Flaschen in Eine große Stofftasche. »Oh Mann, die meisten Flaschen hier sind Bierflaschen von Marius!«
»Dann müsst ihr euren Mitbewohner eben besser erziehen.« Die Stimme ihrer Freundin Sarah klang eher amüsiert als mitfühlend aus dem Handy.
Wenig später schepperten die Flaschen hinter Anna im Fahrradanhänger, als sie auf dem Buntentorsteinweg mit dem Fahrrad fuhr. Sie saß auf dem hochgeschobenen Rock von ihrem langen Kleid. Sorgsam achtete sie darauf, dass der Stoff sich nicht in die Fahrradspeichen klemmen konnte. Die Sonnenstrahlen schienen ihr an diesem ungewöhnlich warmen Apriltag ins Gesicht und wärmten ihre nackten Arme und Beine, als sie in den Kirchweg einbog. An der roten Ampel hielt sie sich lässig am Pfosten fest und sah neben sich ein Auto, in dem ein Mann mit seiner Hand nervös auf das Lenkrad klopfte. Sie mochte diese aggressiven Autofahrer nicht. Die Fußgängerampel schaltete auf Grün um, und während sie weiterfuhr, überlegte sie, ob sich Sarah mehr über die Bio-Erdbeermarmelade oder den neuen Bio-Holundertee freuen würde.
Als sie das kalte Metall an ihrer linken Körperhälfte spürte, war es zu spät. Sie sah, dass sie auf dem Boden lag. »Aufstehen! Er überfährt dich!«, war ihr einziger Gedanke, als sie sich mühsam und mit Schmerzen am ganzen Körper von ihrem Fahrrad befreite und sich aufrichtete. Erleichtert stellte sie fest, dass das Auto zum Stehen gekommen war. Er würde sie nicht überfahren. Anna sah, dass der Mann immer noch im Auto saß und tippte mit ihrem linken Zeigefinger an ihre Stirn. Ihre Hand schmerzte. Der Autofahrer stieg aus und ein blondgelockter Mann mit weit aufgerissenen Augen kam auf sie zu.
Er rief ihr zu: »Es tut mir so leid! Wie geht es Ihnen?«
Erstaunt beobachtete sie, wie der Mann sie von oben bis unten anstarrte. Er war etwa einen Kopf größer als sie.
»Gott sei Dank. Sie haben sich nichts gebrochen«, sagte er mit einer warm klingenden Stimme. Er schien erleichtert.
Mit einem Handgriff richtete er ihr Fahrrad auf, das zumindest auf den ersten Blick nicht verbogen aussah. Im
Anhänger schepperten die Glasflaschen. Der Unbekannte lächelte und ihr fiel der undefinierbare Blauton seiner Augen auf.
»Einen Augenblick«, sagte er betont langsam, »ich fahre schnell mein Auto von der Straße runter und dann bin ich wieder da.«
Warum sprach er so langsam und zeigte mit beiden Armen erst auf sein Auto und dann auf den Gehweg? Dachte er, dass sie kein Deutsch konnte? Mit ihren Gesichtszügen und dunklen Haaren passierte ihr das öfter. Der Mann ging zu seinem Auto und drehte sich um. Er sah auf ihr langes Blumenkleid und lächelte. Würde er einfach davonfahren? Wollte er sie als dumme Ausländerin stehenlassen?
Doch er stellte sein Auto tatsächlich vor der Kirche ab und kam wieder zu ihr zurück. »Haben Sie Schmerzen? Können Sie alles bewegen?«
Anna sah ihn wütend an. »Können Sie nicht gucken? Ich bin geradeaus gefahren und hatte Grün!«
Er sah erschrocken aus. Mit der Hand fuhr sie durch ihre langen Haare, die ihr ins Gesicht fielen.
Der Mann blieb ruhig. »Es tut mir schrecklich leid. Möchten Sie, dass wir die Polizei rufen?«
Dieser Mann hatte Nerven. »Die Polizei? Wissen Sie, wie lange das dauert?« Sie sah auf ihr Fahrrad. »Geben Sie mir lieber Ihre Telefonnummer und Ihren Namen für den Fall, dass ich am Fahrrad etwas reparieren muss, und dann ist das schon ok.«
Sein Auto war hellgrau und sah neu aus, und der Mann wirkte tatsächlich besorgt. Er trug eine schwarze Bundfaltenhose und ein weißes Hemd. Wieso fuhr er mit dieser Kleidung vormittags in der Gegend herum, anstatt in einem Büro oder einem Flugzeug zu sitzen? Sie lächelte ihn an und ärgerte sich sofort darüber. Der Mann sah zwar gut aus und wirkte freundlich, aber immerhin hatte er sie gerade umgefahren.
Sie staunte über diesen scheinbar aus dem Nichts kommenden Mann. Genaugenommen war er zwar aus dem silberfarben glänzenden Auto gekommen, aber es ging alles zu schnell.
Der Mann aus dem Auto reichte ihr eine Visitenkarte, die sie mit ihrer linken, noch schmerzenden Hand nahm. Er stand aufrecht vor ihr und Anna wunderte sich darüber, wie ein Mensch so kerzengerade stehen konnte.
Plötzlich blickte er nach unten. Sie folgte seinem Blick und sah, dass ihr Kleid unter dem Knie zerrissen war.
»Sind Sie am Bein verletzt?« Erschrocken sah er sie an.
Sie hob das Kleid hoch und betrachtete das Blut, das an ihren Beinen klebte. »Nein, nur Schürfwunden.« Sie schüttelte den Kopf und ließ den Stoff von ihrem Kleid wieder nach unten fallen.
»Wie können Sie überhaupt mit einem so langen Kleid Fahrrad fahren?« Er glotzte immer noch auf ihr Kleid.
Machte dieser Mann ihr etwa gerade einen Vorwurf? »Und wie können Sie um die Ecke rasen und mir die Vorfahrt nehmen? Und jetzt versuchen Sie auch noch, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben.« Sie schnappte empört nach Luft.
Der Mann legte seine Hand auf die Brust. »Aber nein, so meinte ich es nicht. Ich bekenne mich schuldig.«
Warum grinste er? Sie sah in seine Augen, die jetzt blau leuchteten, und stellte sich vor, in diesem wunderbaren Blau wie in einem Meer zu schwimmen.
»Ah!«, entfuhr es ihr seufzend.
Er sah sie fragend an. Verlegen starrte sie nach unten und las die Zeilen auf der Visitenkarte in ihrer Hand: »Johannes Schwing«. Darunter stand: »Pastor« und »Fabian-Gemeinde, Kirchweg, Bremen«.
Sie blickte auf die Treppen vor sich und das Kirchentor. Dann sah sie zu ihm und lachte.
»Sind Sie tatsächlich der Pastor dieser Gemeinde und fahren mich direkt vor Ihrem Gotteshaus einfach um?!«
»Es tut mir wirklich leid. Ich war in Eile, weil ich zu einer Beerdigung muss.« Er senkte seinen Kopf und hob ihn nicht wieder, was sie beunruhigte.
Mit einem Räuspern machte sie sich bemerkbar. Endlich hob er wieder seinen Kopf, und sie fragte sich, ob seine Augen wohl immer glänzten wie blaues Meerwasser. Entsetzt stellte sie fest, dass sein Gesicht plötzlich strahlte und ihre Brust dabei merkwürdig schmerzte.
»Sie tragen ein Goldkettchen am Fuß! Und darauf steht Jesus«, stellte er aufgeregt fest.
Meine Güte, dieser Mann konnte einen aber auch erschrecken. Und das alles nur wegen ihrem Fußkettchen. Er sah ihr direkt in die Augen, aber sie hielt seinem Blick stand. Von so einem daher gefahrenen Pastor ließ sie sich nicht einschüchtern. Als er endlich seinen tiefen Blick von ihren Augen abwendete, fühlte sie sich der Ohnmacht nahe und hielt sich mit einer Hand schnell an ihrem Fahrradlenker fest.
»Können Sie weiterfahren oder soll ich Sie wohin bringen?«
»Alles gut«, brachte sie nur im Flüsterton hervor und hielt sich sicherheitshalber mit der zweiten Hand am Lenker fest. Ihre Knie zitterten. Stand sie wegen dem Unfall unter Schock?
»Dann ist es in Ordnung, wenn ich weiterfahre?« Er machte ein fragendes Gesicht und hielt seine Hände offen vor sich.
Sie nickte und versuchte sich vorzustellen, wie er als Pastor in der Kirche aussah.
»Fahren Sie zu Ihrer Beerdigung.«
»Gott sei Dank ist es noch nicht meine eigene.«
Sie lächelten sich an, bis sie ihn schon wenige Sekunden später in seinem Auto davonbrausen sah. Ihr Blick fiel auf die Visitenkarte. Der Name kam ihr bekannt vor, aber das war kein Wunder, wenn er in ihrem Stadtteil Pastor war. Dabei hatte sie mit der offiziellen evangelischen Kirche kaum etwas zu tun, denn in ihrer Gemeinde der Jesus Freaks legten sie großen Wert darauf, eine evangelische Freikirche zu sein.
Vorsichtig fuhr sie mit dem Fahrrad und dem Anhänger zum Bioladen am Ende vom Kirchweg. Während sie die Pfandflaschen in den Automaten schob, spürte sie einen stechenden Schmerz an ihrer rechten Hüfte und sah an den Innenseiten ihrer Hände die aufgerissene Haut von Schürfwunden. Mist! In diesem Zustand wurde nichts aus einem gemütlichen Brunch bei Sarah. Erst einmal würde sie nachhause fahren und Sarah anrufen.
*
Hannes war froh, schnell davongekommen zu sein, auch wenn ihn Schuldgefühle plagten. Wie konnte er diese Fahrradfahrerin übersehen? Zu was hatte Gott ihm Augen gegeben, wenn er sie nicht gebrauchte? Aber war vor ihm auf der Kreuzung nicht eine Frau im Minikleid gefahren?
Die Gestalt dieser Frau und ihre langen, dunklen Haare waren beeindruckend. Als sie ihn mit ihren tiefdunklen Augen ansah, hatte er sich erschrocken. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint, aber sie sprach ohne einen fremdländischen Akzent. Ihre Stimme klang laut und aufgeregt, aber das konnte an der Situation gelegen haben. Auf jeden Fall schien sein Unfallopfer dem Christentum anzugehören.
Zum Glück fand heute Vormittag in seiner Kirche kein Gebetskreis statt. Der Unfall wäre ihm vor seinen Gemeindemitgliedern peinlich gewesen. Hoffentlich kam er jetzt nicht allzu spät zur Beerdigung.
»Lieber Gott, bitte lass sie alle unpünktlich sein«, betete er laut. Gott war seine Stoßgebete gewohnt und half ihm meistens auch kurzfristig. In Gedanken sah er vor sich den Fuß der Frau mit dem Goldkettchen und dem eingravierten Wort »Jesus« daran. Dabei verpasste er beinahe die Einfahrt zum Friedhof.
Hannes parkte auf dem für Pastoren reservierten Parkplatz und sah schon Giselas fülligen Körper zwischen den schwarz gekleideten Trauergästen. Als Küsterin war sie zwar immer vor ihm da, aber nun war er mit zehn nach elf eindeutig zu spät. Er ging auf sie zu und bemerkte, dass sie die Augenbrauen nur ein wenig hochzog.
»Glück gehabt, Herr Schwing. Die Straßenbahnen und Busse fahren in der Innenstadt nicht wegen einer Demonstration der Kurden.« Nervös blickte sie zum Friedhofseingang. »Wir müssen noch auf ein paar Trauergäste warten, die jetzt versuchen, mit dem Taxi zu kommen.«
Er lächelte und sah nach oben. »Gelobet sei der Herr!«, dachte er.
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Denn dein ist die Liebe
von Flora Montán
Kellner Verlag Bremen 2023
ISBN: 978-3-95651-386-2